
Psychologische Sicherheit gilt als ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Teams – und das belegen zahlreiche Studien und Forschungsergebnisse. Amy Edmondson hat in ihren Büchern, die auf umfangreicher Forschung basieren, eindrucksvoll gezeigt, dass Unternehmen erfolgreicher sein können, wenn sie ein Umfeld fördern, in dem sich alle Mitglieder sicher fühlen. Doch was genau bedeutet psychologische Sicherheit, und wie lässt sie sich im Alltag erreichen?
Beginnen wir mit dem Verständnis
Es ist wichtig, zunächst ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln, was psychologische Sicherheit eigentlich bedeutet. In einem Team, das auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitet, muss auch klar definiert werden, was unter einem sicheren Umgang miteinander verstanden wird. Alle Team-Mitglieder sollten das Gleiche darunter verstehen und idealerweise gemeinsame Begriffe verwenden. (Ein Verständnis-Check empfiehlt sich übrigens für alle Teamziele!)
Zwar hören und nutzen wir die Wörter „psychologisch“ und „Sicherheit“ öfter – doch in Kombination erfordern sie eine präzise Definition. Eine schnelle Internetrecherche zeigt, dass der Begriff „Psychologische Sicherheit“ schon in den 1950er Jahren geprägt wurde. So richtig im Business-Mainstream angekommen ist er aber erst durch Amy Edmondsons Buch „Die angstfreie Organisation“, das erstmals 2018 veröffentlicht wurde. Sie definiert Psychologische Sicherheit folgendermaßen:
„Die Überzeugung, dass man nicht bestraft oder gedemütigt wird, wenn man Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehler anspricht, und dass es im Team sicher ist, zwischenmenschliche Risiken einzugehen.“ (1)
Das heißt nicht, dass mit einer hohen psychologischen Sicherheit alles Friede, Freude, Eierkuchen ist. Wer Harmonie sucht, wird enttäuscht. In psychologisch sicheren Teams können auch mal die Fetzen fliegen, heiße Diskussionen geführt und ordentlich Reibung erzeugt werden. Wenn nämlich heikle Themen besprochen werden, ist es ganz normal, dass unterschiedliche Sichtweisen oder Wertvorstellungen aufeinanderprallen. In einem psychologisch sicheren Team trauen sich trotzdem alle, ihre Meinung zu äußern, UND es gibt einen konstruktiven und wertschätzenden Umgang in den Gesprächen (bitte nicht zu verwechseln mit Teams, in denen sich zwar alle trauen, lautstark ihre Meinung kundzutun, aber sich die Team-Mitglieder gegenseitig nicht hören bzw. ernst nehmen – das hat nichts mit psychologischer Sicherheit zu tun, sondern eher mit ungünstigem Konfliktverhalten). Ausschlaggebend für die Qualität der Ergebnisse ist daher die Qualität der Gespräche.
Es geht nur gemeinsam
Psychologische Sicherheit bezieht sich laut Definition auf eine Gruppe oder ein Team, und nicht auf einzelne Personen (wir erweitern hier bewusst die Definition und sprechen von Teams und Gruppen – was den Unterschied ausmacht kann man im Blog-Artikel „Team oder Arbeitsgruppe – was sind wir und was brauchen wir?“ nachlesen). Psychologische Sicherheit ist also immer ein Gruppenphänomen, das aber von Individuen wahrgenommen wird. Es ist daher nicht möglich, dass ein Team-Mitglied „psychologisch unsicher“ ist – diese Person
zeigt entweder Symptome der psychologischen Unsicherheit in der Gruppe (z.B. durch Schweigen) und/oder
ist sensibler in der Wahrnehmung (z.B. reagiert früher als andere oder als einzige mit Symptomen) und/oder
traut sich Probleme trotz fehlender psychologischer Sicherheit anzusprechen (z.B. spricht an, dass sie Probleme hat, ihre Bedenken zu äußern, wird aber als „überempfindlich“ abgetan).
In jedem beschriebenen Fall liegt das Problem NICHT an der Person, sondern an der mangelnden psychologischen Sicherheit in dieser Gruppe oder Team. Das bedeutet, dass zur Stärkung der psychologischen Sicherheit auch alle im Team mithelfen müssen. Eine Führungsperson oder ein Team-Mitglied kann zwar alleine nicht viel ausrichten, aber bewusste Schritte setzen. Erst wenn die anderen Menschen im Team mitziehen, kann gemeinsam eine angstfreie Atmosphäre geschaffen werden, in der sich die Team-Mitglieder voll auf ihre Arbeit konzentrieren können und wollen – und nicht von unausgesprochenen Problemen belastet oder von Angst vor Konsequenzen blockiert werden. Wenn Offenheit herrscht, können problematische Situationen erkannt und behoben werden, kann aus Fehlern gelernt werden und es können innovative Lösungen entstehen.
Besser geht immer
Woran können wir als Individuen erkennen, dass wir zu wenig psychologische Sicherheit in einer Gruppe oder einem Team haben? Ich selbst nehme als ersten Indikator Situationen, in denen ich ein Thema oder ein Problem nicht ansprechen will. Sobald ich mir denke: „Das sage ich jetzt besser nicht, sonst …“, läuten meine inneren Alarmglocken. Ebenso, wenn ich zögere, meine Kolleginnen oder Kollegen um Hilfe zu bitten. Wenn ich dann befürchten muss, dass mich die anderen für inkompetent, begriffsstutzig, unwillig, überfordert oder ähnliches halten, wurstle ich lieber alleine weiter.
Einerseits merken wir die eigene Betroffenheit recht schnell, andererseits tun wir uns aber oft schwer, den eigenen Beitrag zur psychologischen Unsicherheit zu sehen. Das sind manchmal kleine Dinge, die ganz unbewusst passieren, wie ein Augenrollen oder ein beiläufiger Kommentar. Manchmal hören wir nicht zu, tun andere Meinungen schnell ab, halten einem Team-Mitglied einen Fehler vor, äußern Vorwürfe und Drohungen oder verhalten uns passiv aggressiv. Die Palette ist groß, es gibt eine ganze Menge an achtlosem Verhalten, das gegen die psychologische Sicherheit spielt.
Um unseren Selbstwert zu schützen, ist es ganz menschlich, dass wir also viel besser darin sind, das oben beschriebene Verhalten bei anderen zu bemerken, als bei uns selbst. Und je geringer die psychologische Sicherheit in einem Team ist, umso wichtiger wird es für die Menschen darin, ihren Selbstwert zu schützen. Das ist vielleicht auch der Grund, dass viele Führungspersonen, befragt nach der psychologischen Sicherheit in ihrem Team, überzeugt antworten, dass es da kein Problem gibt. Alles paletti, kein Handlungsbedarf. Bei uns wird alles angesprochen, meine Tür steht immer offen. Bei genauerem Nachfragen und Erklärung des Begriffs wird aber meist offenbar, dass es doch Möglichkeiten gibt, um (noch) mehr psychologische Sicherheit zu erreichen.
Wenn Sie also spontan auf die Frage: „Wie steht es um die psychologische Sicherheit in Ihrem Team?“ mit „Alles in Ordnung!“ antworten, schauen Sie nochmal genau hin und fragen Sie nach. Wann haben Sie selbst zuletzt ein Problem oder Thema nicht angesprochen, weil Sie keinen Konflikt wollten, weil Sie nicht selbst die Arbeit ausfassen wollten, weil Sie nicht für aufmüpfig gehalten werden wollten, weil Sie auf eine Beförderung hoffen, weil Sie…?
In Anlehnung an Amy Edmondsons Forschung gibt es inzwischen einige Publikationen und kommerzielle Angebote zur Messung der psychologischen Sicherheit. Teams oder auch ganze Unternehmen können so besser einschätzen, wo Ansatzpunkte zur Verbesserung gefunden werden können. (2)
Starten müssen wir bei uns selbst
Auch wenn psychologische Sicherheit eine Gruppenleistung ist, können wir als Individuen nur bei uns selbst starten. Gern gewählte – weil scheinbar schnell erledigte – Ansätze wie Appelle, Bitten oder „Befehle von oben“ zu mehr psychologischer Sicherheit sind zum Scheitern verurteilt. Es braucht eine Verhaltensänderung, und die muss erst mal gelernt werden. Was in der Theorie so einfach klingt, geht im Stress des Arbeitsalltags oft unter. Daher unsere Empfehlung: kleine überschaubare Schritte angehen, und Geduld und Wohlwollen mit sich selbst zeigen, wenn etwas nicht gelingt.
Erster Schritt zur Veränderung ist die Selbstwahrnehmung: Wie verhalte ich mich, wenn ein heikles oder mir unangenehmes Thema angesprochen wird? Was denke ich, was fühle ich, was tue ich? Welche Wirkung hat mein Verhalten auf die anderen Team-Mitglieder? Um achtloses Verhalten zu vermeiden und achtsames Verhalten zu üben, empfehlen wir das Buch „Search Inside Yourself“ (3) und/oder ein Sparring mit einer vertrauten Person, die in Achtsamkeit geübt ist.
Parallel dazu können Sie mit kleinen und einfach umsetzbaren Mini-Verhaltensänderungen (sog. Micro-Habits) arbeiten. Manchmal machen ganz kleine Änderungen schon große Unterschiede, und ganz egal, wo man beginnt, es bewirkt immer etwas. Hier eine Auswahl unserer bevorzugten Micro-Habits für den Start:
„Zwei Ohren, ein Mund“. Dabei halten wir uns vor Augen, dass wir zwei Ohren haben, aber nur einen Mund. Daher sollten wir doppelt so viel zuhören wie wir sprechen. Das spiegelt auch eine hilfreiche Coaching-Haltung wider: Neugier und Interesse – ich will hören, was du zu sagen hast, erzähl mir bitte mehr.
„Situative Demut“. Diese Haltung zeigt den anderen Ihre Offenheit und lädt zur Beteiligung ein, z.B. durch das Eingestehen, eine bestimmte Antwort nicht zu haben, die Lage nicht gut einschätzen zu können, einen Misserfolg eingefahren zu haben oder bei einem Problem nicht weiter zu wissen. Üben Sie dafür diese Sätze: „Ich weiß es nicht.“ - „Bitte hilf mir.“ - „Ich habe einen Fehler gemacht.“
„Blameless Reporting“. (4) Der Umgang mit Misserfolgen oder Fehlern ist ganz entscheidend für die psychologische Sicherheit. Damit ein angstfreies Aufarbeiten von Fehlern gelingt, so dass daraus gelernt werden kann, empfehlen wir „Blameless Reporting“, beispielsweise ein Postmortem-Workshop, eine Retrospektive oder eine Problemanalyse OHNE jemanden zu beschuldigen. Benennen Sie dafür eine Person („Blame-Guardian“), die die Aufgabe hat, genau auf Beschuldigungen zu hören und ein Zeichen zu geben, wenn es passiert. In der Moderation sollen Fragen auch so gestellt werden, dass sie möglichst wenig zu Beschuldigungen einladen. Wir empfehlen dazu lösungsfokussierte Fragen wie „Was können wir tun, um einen solchen Fehler in Zukunft zu vermeiden?“ oder „Was werden wir das nächste Mal anders machen?“
Ansatzpunkte gibt es natürlich viel mehr, wir stellen hier zwei Werke vor, die Orientierung und weitere Ideen für kleine Veränderungen bieten.
Kleine Schritte zur Förderung der psychologischen Sicherheit
Erste Empfehlung ist das Playbook Psychologische Sicherheit. (5) Die beiden Autorinnen Karolin Helbig und Minette Norman beschreiben anhand von fünf Dimensionen („Plays“) jeweils fünf kleine „Moves“. Zielgruppe sind Führungspersonen, weil sie mit ihrem Vorbildverhalten sehr stark die psychologische Sicherheit in Teams beeinflussen. Die einzelnen Moves sind kurz und knackig formuliert und mit anschaulichen Illustrationen und konkreten Umsetzungsideen präsentiert. Das macht die Handhabung und das Ausprobieren einfach. Man kann nach Bedarf oder Lust und Laune auswählen. Wenn ich beispielsweise an meiner Reaktion auf unangenehme Themen arbeiten möchte, schlage ich Kapitel 3 auf. Hier finde ich als ersten von fünf Moves „Die Pausetaste drücken“ und bekomme eine schnelle Inspiration, wie mir das gelingen kann. Das Buch ist in deutscher und englischer Sprache verfügbar.
Die zweite Empfehlung sind die 4 Stufen der Psychologischen Sicherheit nach Timothy R. Clark. (6) Hier wird der Fortschritt der psychologischen Sicherheit in vier Phasen dargestellt. In einem ersten Schritt kann man sich in diesen Phasen einordnen und so einen Ansatzpunkt identifizieren. Auf der Webseite des Autors (7) finden sich jede Menge kostenlose Ressourcen zum Download, unter anderem der „Behavioral Guide“ (nur in englischer Sprache). Dieser Guide bietet pro Stufe mehr als 30 Micro-Habits, eingeteilt nach Team-, Führungs- oder individuellem Verhalten. Wenn ich mein Team beispielsweise in der Stufe 2 „Learner Safety“ verorte – wir also in der Phase des gemeinsamen Lernens angelangt sind – finde ich für individuelles und Führungsverhalten „Adopt a student mindset“ oder deutsch „Nimm die Haltung eines Lernenden an.“ Im Gegensatz zum o.g. Playbook bietet der Guide allerdings nur minimale Erklärungen zur Umsetzung und bleibt sehr vage.
Bleiben Sie dran, es zahlt sich aus
Ganz egal, wofür Sie sich entscheiden, beide Modelle bieten sehr gute Ansatzpunkte und Inspiration für die Umsetzung. Wichtig ist nur, mit einem ersten kleinen Schritt zu starten. Auch wenn Sie die psychologische Sicherheit schon als sehr hoch einstufen - wir wetten, es sind trotzdem noch neue Ansatzpunkte dabei, ganz frei nach dem o.g. Micro-Habit: In der Haltung des Lernenden kann ich noch nicht alles wissen, sondern bin offen für neue Ideen.
Es gibt also immer was zu tun zur Förderung der psychologischen Sicherheit. Zum einen, weil wir nicht davon ausgehen sollten, dass einmal Erreichtes immer so bleiben wird, es ändern sich ständig Team Zusammensetzungen oder Rahmenbedingungen. Zum anderen, weil es konsequente, laufende Aufmerksamkeit und Bemühungen aller Beteiligten (nicht nur der Führungspersonen!) bedarf, und die psychologische Sicherheit ständig „geübt“ werden muss. Nur wer kontinuierlich an einem angstfreien, sicheren und offenen Miteinander arbeitet, kann langfristig von den Vorteilen profitieren: besseres Teamlernen, höhere Resilienz, fundiertere Entscheidungen, echte Inklusion und letztlich bessere hybride oder remote Zusammenarbeit.
In unserem nächsten Blog-Artikel schauen wir uns an, was es im Sinne der psychologischen Sicherheit für Teams bedeutet, einander emotional und sozial zu unterstützen und wir „Mensch“ sein dürfen.
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1) https://amycedmondson.com/psychological-safety/ , deutsche Übersetzung der Definition “A belief that one will not be punished or humiliated for speaking up with ideas, questions, concerns, or mistakes and that the team is safe for inter-personal risk-taking.” – siehe auch Die angstfreie Organisation, Amy C. Edmondson (Vahlen, 2020). ISBN 978-3-8006-6067-4
2) Siehe bspw. https://fearlessorganizationscan.com/ - bietet einen Gratis-Einstiegstest für Einzelpersonen an (nur englisch). Anhand der Dimensionen Hilfsbereitschaft, Inklusion, Einstellung zu Misserfolgen und offene Gespräche wird eine Bewertung der eingegebenen Antworten mit Benchmark geliefert. Fragebögen zur Messung der psychologischen Sicherheit finden sich z.B. https://zis.gesis.org/skala/Fischer-H%C3%BCttermann-PsySafety-Check-%28PS-C%29 (PsySafety-Check (PS-C) misst das Konstrukt psychologische Sicherheit) oder z.B. im Buch Die angstfreie Organisation (siehe 1)
3) Search inside yourself - optimiere dein Leben durch Achtsamkeit, Chade-Meng Tan (Goldmann 2015). ISBN 978-3-4422-2113-4. Gratis-Ressourcen zum Thema bietet die Webseite https://siyli.org/resources
4) Die Unternehmen Google und Atlassian berichten von ihren Blameless Postmortems https://sre.google/sre-book/postmortem-culture/ und https://www.atlassian.com/de/incident-management/postmortem/blameless, unter https://www.smartsheet.com/content/blameless-postmortem-guide?srsltid=AfmBOorjYSuIZI0dkl0vmv9glERDZY2k7a0HCht3EUbLXcBjpwAyHWrw steht ein Template dafür zur Verfügung
5) Playbook Psychologische Sicherheit, Karolin Helbig und Minette Norman (Vahlen 2024). ISBN 978-3-8006-7299-8. Siehe auch https://thepsychologicalsafetyplaybook.com/ (Webseite in englischer Sprache)
6) Die vier Stufen der psychologischen Sicherheit - Auf dem Weg zu mehr Vielfalt und Innovation am Arbeitsplatz, Timothy R. Clark (Vahlen 2023). ISBN 978-3-8006-7190-8.
7) Gratis-Ressourcen zum Thema in englischer Sprache unter https://www.leaderfactor.com/resources. Direkter Link zum „Behavioral Guide“ mit vielen Ideen für die Umsetzung https://www.leaderfactor.com/resources/the-4-stages-behavioral-guide
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