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Grenzen setzen in einer grenzenlosen Welt

  • Autorenbild: Susanne Bauer
    Susanne Bauer
  • 5. Mai
  • 6 Min. Lesezeit

Ein Plädoyer für Klarheit, Kommunikation und Mut


Ein Blog-Artikel von Veronika Jungwirth und Doris Regele




Zwischen unbegrenztem Zugang und wachsender Orientierungslosigkeit

Es entsteht der Eindruck, im Zeitalter der Grenzenlosigkeit zu leben. Sie zeigt sich im Alltag, mit den unlimitierten Daten- und Telefonietarifen vieler Mobilfunkanbieter, den zahllosen Filmen, die 24/7 gestreamt werden können, Musik und Bücher unlimited - die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Egal, wann und wo ein bestimmtes Bedürfnis entsteht, es kann heutzutage nahezu sofort gestillt werden.


Wenn man einem Jugendlichen heute erzählt, dass ein Fotofilm früher 24 oder 36 Bilder aufnehmen konnte und man die Filmrolle dann erstmal zum Entwickeln bringen musste, dass eine Serie nur eine Folge pro Woche ausgestrahlt hat und dass man zum Telefonieren eine Telefonhütte aufsuchen musste (oder warten, bis die Nachbarin fertig telefoniert hatte, wenn man einen geteilten Anschluss hatte), erntet man Blicke, als hätte man gerade unglaubliche Science Fiction Geschichten erfunden, die total unrealistisch klingen. Wie konnte man in so einer Zeit nur überleben?


Und doch war alles irgendwie auch einfacher. Die Regeln waren klarer. Die Ablenkungen geringer - das Fokus halten leichter. Wie viele E-Mails haben Sie in Ihrer Inbox? Wie viele Tasks auf Ihrer ToDo-Liste? Kein Wunder, dass Kreativität, Innovation und Entspannung auf der Strecke bleiben, wenn da ständig das Gefühl ist, etwas Wichtiges zu verpassen oder irgendwo anders dringender gebraucht zu werden.


Und nein, wir wünschen uns die „guten alten Zeiten“ nicht zurück. Wir sind dankbar für alle diese Annehmlichkeiten, die uns in den letzten Jahrzehnten so schnell geschenkt wurden - und wir wollen sie auf keinen Fall mehr missen!


Es ist etwas anderes, das uns beschäftigt, nämlich der Umgang damit. Wir beobachten, dass die allgegenwärtige Grenzenlosigkeit bei vielen Menschen zu Verunsicherung führt. Wenn man überall alles haben kann, wie soll man dann eine vernünftige Entscheidung treffen? Wenn es so viele Möglichkeiten gibt, wie soll man den Überblick behalten? Wenn man kaum eine Chance hat, Nein sagen zu lernen, wie kann ein Ja dann überhaupt Bedeutung haben?


Klarheit und Klärung – Orientierung in unsicheren Zeiten

Auch in so manchem Unternehmen, das vermeintlich agile Arbeitsweisen fördern möchte, greift Grenzenlosigkeit um sich. Teams sollen ab einem Tag X – oft ohne Vorbereitung – selbstorganisiert arbeiten und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Führung soll ab demselben Tag X coachen, dem Team den Rücken freihalten – und bloß keine autoritären Vorgaben machen. Dabei wird oft übersehen, dass diese „geschenkte und ungezügelte Freiheit“ von Teams nur angenommen werden kann, wenn die Rahmenbedingungen klar sind. Um Entscheidungen treffen zu können, braucht es Klarheit. Und um diese zu erlangen, braucht es Klärung.


Klarheit und Klärung sind zwar eng verwandte – und doch unterschiedliche – Konzepte. Klarheit bezieht sich auf das Verständnis und die Transparenz von Informationen. Es bedeutet, dass alle Beteiligten die gleichen Informationen haben und wissen, was von ihnen gebraucht wird. Klärung hingegen ist der Prozess, durch den diese Klarheit erreicht wird. Es geht darum, Missverständnisse auszuräumen, Fragen zu beantworten und Unklarheiten zu beseitigen. Gerade in Zeiten der Grenzenlosigkeit ist es besonders wichtig, dass Arbeitgeber und Mitarbeitende sowohl Klarheit schaffen als auch den Prozess der Klärung aktiv unterstützen.


Wenn es denn so einfach wäre! Aus unserer Praxis kennen wir die Realität, die in vielen Unternehmen auch anders aussieht. Mit folgenden Problemen sind Menschen in Organisationen konfrontiert:


  1. Informationsdefizit und/oder -überflutung: Gar keine oder ZU WENIGE Informationen gibt es, wenn z.B. Rollen nicht ausreichend geklärt sind (wer informiert wen wann worüber?). Es gibt jedoch auch oft ZU VIELE Informationen. Wenn JEDE Information einfach ins Team „gekippt“ und jede E-Mail an alle geschickt wird, kann dies überwältigend sein bzw. können wirklich wichtige Details verlorengehen. Die Balance zu halten ist schwierig und gleichzeitig hochrelevant.

  2. Fehlendes oder oberflächliches Feedback: Ohne regelmäßiges Feedback wissen Mitarbeitende nicht, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Dabei geht es beim Feedback geben vielmehr um den Abgleich zwischen Bedürfnis und Erfüllung des Bedürfnisses, als um die Bewertung „richtig“ oder „falsch“. Feedback geben und nehmen will gelernt sein. Der Aufwand lohnt sich allemal.

  3. Unzureichender Wissensaustausch: Wissen bleibt oft bei Einzelpersonen und wird nicht - oder nicht ausreichend - im Unternehmen geteilt. Kontinuierliche und zielgerichtete Wissensverteilung bedeutet für die Organisation Risikominimierung. Sie kostet Zeit und Aufwand und kann nur funktionieren, wenn die Wissensträger und -trägerinnen sich in ihrer Gesamtheit wertgeschätzt fühlen. Gezielte Wissensverteilung nicht zu forcieren kann zu hohen Verlusten führen und ist daher aus unserer Sicht ein unverzichtbarer Teil von Organisationsentwicklung.

  4. Einseitige Kommunikation: Wenn Informationen nur von oben nach unten fließen, fühlen sich Mitarbeitende nicht gehört und – ohne Rückmeldung – Führungspersonen unverstanden. Kommunikation muss in alle Richtungen fließen und überall auch ankommen können. Dazu braucht es psychologische Sicherheit für alle Beteiligten, wie in einem früheren Blogartikel beschrieben.

  5. Missverständnisse: Unklare Anweisungen und widersprüchliche Botschaften führen zu Verwirrung. Es muss einen Kanal für Rückfragen und Warnungen geben. Missverständnisse sind der Ausgangspunkt vieler Konflikte. Ihnen kann durch klare Kommunikation vorgebeugt werden.


Diese Liste lässt sich leicht verlängern – jeder, der schon einmal in einem Team gearbeitet hat, kennt bestimmt zahlreiche praktische Beispiele zu den erwähnten Schwierigkeiten.


Der Managementexperte Reinhard K. Sprenger beschreibt in seinem Buch „Das Prinzip Selbstverantwortung“ [1] einen dreifachen Ordnungsrahmen, der Klarheit in Teams und Organisationen fördern kann:


Struktur: Klare Rollen und Verantwortlichkeiten schaffen.

Dies bedeutet, dass jeder im Unternehmen genau weiß, welche Aufgaben er oder sie hat und wie diese zur Erreichung der Unternehmensziele beitragen.

Prozesse: Transparente und nachvollziehbare Abläufe etablieren.

Dies umfasst die Definition von Arbeitsabläufen, Kommunikationswegen und Entscheidungsprozessen, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeitenden effizient zusammenarbeiten können.

Kultur: Eine offene und vertrauensvolle Kommunikationskultur fördern.

Dies bedeutet, dass Feedback und offene Kommunikation gefördert werden, um ein Umfeld zu schaffen, in dem sich alle Mitarbeitenden sicher und unterstützt fühlt. Zum entsprechenden Konzept der „Psychologischen Sicherheit“ haben wir an anderer Stelle schon ausführlicher geschrieben.


Klarheit in der Kommunikation braucht also den Mut zur Klärung: den Mut, Unangenehmes anzusprechen, Feedback zu geben, Entscheidungen zu treffen. Grenzen setzen ist auch hier ein Akt der Reifung – ein „Ich sehe das so“, ein „Hier endet meine Verantwortung“, ein „Dafür bin ich da - und dafür nicht“.


Ja und Nein – Grenzen als Chance in der Personalgewinnung

Lassen Sie uns einen Blick ins heiß umkämpfte Thema "Personal-Recruiting" werfen. Wir hören von Führungspersonen und HR-Expertinnen und -Experten, dass es schwierig ist, gute junge Mitarbeitende zu bekommen, weil sie entweder zu unerfahren oder zu fordernd – manchmal sogar beides sind. Man müsse ihnen z.B. schon von Beginn an 100% Homeoffice bieten, dazu bereits für die Junior-Position ein beachtliches Gehalt, mindestens 6 Wochen Urlaub und technische Geräte auf dem neuesten Stand. Sonst überlegen die gar nicht, ob sie hier arbeiten wollen, weil beim nächsten Unternehmen bekommen sie das alles – und ein kostenloses Mittagessen noch dazu. Wie soll man sich das nur leisten? Wie soll ein Unternehmen da überleben?


Wir haben auch mit Arbeitssuchenden gesprochen. Und ihre Wunschliste klingt größtenteils ganz anders als jene, die ihnen von Führungspersonen und HR-Expertinnen und -Experten in den Mund gelegt wird: Sie wünschen sich spannende und abwechslungsreiche Aufgabengebiete, die Möglichkeit zu lernen und mit anderen zu agieren. Sie wollen für das Unternehmen und die Welt einen Mehrwert stiften und mit coolen Menschen zusammenarbeiten. Es ist ihnen wichtig zu wissen, wofür das Unternehmen steht, wollen sich mit den Zielen und Werten identifizieren können. Sie wollen Teil von etwas Großartigem sein und gemeinsam mit anderen Erfolge feiern. Sie möchten ernst genommen und mit Respekt behandelt werden. UND sie wollen Leistung bringen.


Natürlich müssen dann auch die Rahmenbedingungen halbwegs passen. Es ist diese Reihenfolge: Zuerst Inhalt der Arbeit - dann soziales Miteinander - dann Rahmenbedingungen. Nicht umgekehrt!


Und wenn wir jetzt annehmen, dass das für durchaus viele Menschen zutreffen könnte, sollte man sich wohl überlegen, wie man die Attraktivität, den Nutzen und die Wichtigkeit der Arbeit in den Vordergrund stellen könnte. Es wäre wohl auch klug, die künftigen Kolleginnen und Kollegen im Team vorzustellen, um zu sehen, ob der oder die Neue sich in dieser Gesellschaft wohl fühlen könnte. Wenn das alles passt, werden die Rahmenbedingungen oft nur noch eine nachgeordnete Rolle spielen. Die Interessentinnen und Interessenten wissen dann, worauf sie sich einlassen und wozu sie Ja oder Nein sagen können. Das gibt Gewissheit und steigert die Wahrscheinlichkeit, dass neue Mitarbeitende auch längerfristig bleiben.


Bieten Sie Rahmenbedingungen an, die für das Unternehmen realistisch leistbar und inhaltlich vernünftig sind. Ja, es werden sich dann manche Bewerberinnen und Bewerber gegen eine Anstellung bei Ihnen entscheiden. Und das ist auch gut so. Setzen Sie von der Unternehmensspitze ausgehend klare Leitlinien und verteidigen Sie sie auch. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden es Ihnen danken – oder gehen. Nur so bekommen Sie das Team, mit dem Sie auch langfristig erfolgreich sein können. Das klappt übrigens am besten und am schnellsten, wenn Sie selbst suchen (anstatt suchen zu lassen) und wenn Sie sich die Mühe machen, einander persönlich kennenzulernen (anstatt per Video-Call).


Fazit: Klarheit kommt am Schluss – UND sie beginnt mit Mut

Grenzen setzen heißt, Klarheit zu schaffen – über eigene Bedürfnisse, über Verantwortlichkeiten, über gegebene Rahmenbedingungen. Diese Klarheit entsteht nicht über Nacht. Sie ist das Ergebnis kontinuierlicher Kommunikation, aufmerksamen Zuhörens und bewusster Entscheidungen.


In einer Welt, in der „alles möglich“ ist, braucht es Orientierung. Nicht durch starre Regeln, sondern durch gemeinsame Verständigung: Was ist für uns als Team wichtig? Wofür stehen wir als Organisation? Was brauche ich – und was bin ich bereit zu geben?


Grenzen setzen ist kein Rückschritt. Es ist ein kraftvoller und mutiger Schritt hin zu Verbindung, Verantwortung und echter Zusammenarbeit.





Quellen:

Sprenger, Reinhard K., „Das Prinzip Selbstverantwortung“, campus Verlag, 1995

Ury, William, „The Power of a Positive No”, Random House LLC US, 2008

 

 
 
 

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